Vortrag vom 4. Februar 2021 von Dr. Andrea Zeeb-Lanz (Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz): Massenmord? Menschenopfer? Kannibalismus?
Zum aktuellen Forschungsstand der jungsteinzeitlichen Ritualstätte von Herxheim (Rheinland-Pfalz)
Am 04.02.2021 18.15 Uhr hielt Frau Dr. Andrea Zeeb-Lanz (Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz) einen Online-Vortrag über die Ritualstätte von Herxheim mit dem Titel "Massenmord? Menschenopfer? Ritueller Kannibalismus? Zum aktuellen Forschungsstand der jungsteinzeitlichen Ritualstätte von Herxheim (Rheinland-Pfalz)". Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie Heidelberg und dem Verein ArchaeNova e. V. statt.
Herr Prof. Dr. Joseph Maran (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie Heidelberg) stellte den digitalen Videokonferenzraum zur Verfügung, leitete die Veranstaltung und stellte die Referentin vor. Die Vorstellung des Vereins ArchaeNova e. V. übernahm Dr. Christoph Gerber (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie Heidelberg). Stefan Halbedl sorgte für den Livestream.
Nachdem Frau Dr. Andrea Zeeb-Lanz die Einzigartigkeit der Befunde des Fundplatzes Herxheim hervorgehoben hatte, ging sie allgemein auf die jungsteinzeitliche, vor allem die Lößböden besiedelnde, um 5300 v. Chr. sich u. a. auch über den Rhein in die heutigen Pfalz ausbreitende Bandkerami-sche Kultur ein (ca. 5600 – ca. 5000 v. Chr./ältere LBK ca. 5600 – 5300 v. Chr., jüngere LBK ca. 5300 – 5000 v. Chr.). Diese von Einwanderern aus dem ungarischen Raum und ihren Nach-kommen getragene Kultur ist die früheste Ackerbaukultur Mitteleuropas. Die Träger der Bandkeramischen Kultur brachten die Kenntnis der Keramikherstellung, daneben Ziegen, Schafe und Rinder mit, errichteten große 20 – 50 m lange Häuser, bauten Getreide und verschiedene Hülsenfrüchte an, fabrizierten geschliffene Äxte und Beile und waren sesshaft.
Anschließend wurde der heute ca. 20 km vom Rhein entfernten Fundplatz Herxheim (Gewerbegebiet) bei Landau (Rheinland-Pfalz) unter Einbeziehung der Forschungsgeschichte vorgestellt. Die Grabungen fanden im heutigen Gewerbegebiet von 1996 – 1999, 2005 – 2008 und 2010 teilweise unter der Leitung von Dr. Andrea Zeeb-Lanz statt.
Siedlung:
Von der kleinen, ca. 300 Jahre lang bestehenden bandkeramischen Siedlung (ab ca. 5300 v. Chr.) - auf die die Referentin in der Diskussion näher einging - ist bislang noch kein Hausgrundriss festgestellt worden, so dass es unbekannt ist, wie viele Häuser einst existierten. Die eigentliche, noch nicht vollständig ausgegrabene und bisher ca. 3000 Innenbefunde aufweisende Siedlung ist bislang nur durch viele Siedlungsgruben und zwei rudimentäre Längsgruben mit Funden belegt. In etlichen Siedlungsgruben gab es Ritualreste, Schädelkalotten konnten aber bislang in der Siedlung direkt noch nicht nachgewiesen werden. Nach dem Ende der bandkeramischen Siedlung folgte ein ca. 200 Jahre dauernder Siedlungshiatus, bevor sich wieder Menschen, diesmal der sogenannten Hinkelstein-Gruppe (ca. 4900 – 4800 v. Chr.) zumindest in der Umgebung von Herxheim niederließen (Hinkelstein II-Befunde).
Zu den beiden Gräben:
Allgemein:
Die beiden die Siedlungsfläche auf drei Seiten umgebenden, heute noch bis zu 3 m tiefen Gräben haben zumindest "in langen Segmenten gleichzeitig offen gestanden" (20 – 30 m). Sie entstammen laut Dr. Andrea Zeeb-Lanz der Endphase der Besiedlung von Herxheim. Die ursprüngliche These, dass die Gräben innerhalb von 300 Jahren durch nebeneinander angelegte Gruben entstanden, ist wohl durch den Nachweis, dass viele Grabensegmente gleichzeitig offen standen, u. a. weil die angenommenen einzelnen Gruben sich nicht überschnitten und die Datierung der in den Gräben gefundenen Keramik in die jüngste Phase der Bandkeramik kurz vor 5000 v. Chr. fällt, abzulehnen. Die in den Gräben gefundenen Knochen wiesen keine Verbissspuren (Wolf, Hunde etc.) auf, so dass die Gräben sehr bald wieder geschlossen wurden.
An Befunden und Ritualbefunden enthielten die Gräben u. a. intentionell zerkleinerte und fragmentierte bzw. zerstörte Menschenknochen (Skelettteile, Menschenkalotten), welche von geopferten Menschen stammen könnten, intentionell zerstörte Keramik, teilweise intentionell zerstörte Steingeräte, intentionell zerstörte Mahlsteine, Tierknochen (rituell interpretierbare Bukranien und Ziegelschädelstücke mit je zwei Hörnern), Knochengeräte, und Schmuck (Eberzähne, Hirschgrandeln, durchbohrte Muscheln etc.). Des Weiteren fanden sich in den Gräben Hundeknochen von mindestens 13 Hunden (280 Knochen), die geviertelt worden waren und wohl als Mahlzeitportionen zu interpretieren sind. Auch spielte wohl das Feuer bei den Ritualen in Herxheim eine große Rolle. Bei vielen Fundkonzentrationen fand man dicke Brand- und Ascheschichten mit unverbrannten Knochen, intentionell zerstörter Keramik mit Brandspuren (erst Zerstörung dann Feuer) und Schädelkalotten mit Brandspuren, wobei sich feststellen ließ, dass die Kalotten vor dem Brand hergestellt wurden. Letzteres spricht gegen die These, "dass Menschen am Spieß" (Kannibalismus) gebraten wurden. Danach wurde wohl das Ritual im Bereich der Gräben durchgeführt, wobei die Gräben wohl als "Teilbereich des Ritualgeschehens" zu sehen sind.
Zur Datierung:
Insgesamt wurden in den freigelegten Grabenabschnitten bislang Reste von über 1000 wahrscheinlich geopferten Individuen gefunden (ca. 500 menschliche Schädelkalotten oder Schädel (12) teilweise mit Spuren von Dechselschlägen).
Eine genaue Datierung der Dauer der Aktivitäten an den Gräben durch die C-14-Methode - haben sie 2, 5 oder 20 Jahre gedauert? - ist anscheinend nicht möglich, da die Kalbrationskurve um 5000 v. Chr. ein C-14 Plateau aufweist, so dass man mit der C-14-Methode nur auf mehrere hundert Jahre genau datieren kann. Nach der in den Gräben gefundenen verzierten Keramik (relative Chronologie) dauerte der Ritus der Opferungspraxis weniger als 50 Jahre. Die verzierte Keramik datiert - wie erwähnt - in die allerjüngste Phase der Bandkeramik kurz vor 5000 v. Chr. und ist nicht jünger als 5000 v. Chr.. Damit gibt sie einen Anhaltspunkt für das Ende der Nutzung der Gräben.
Aufgrund der Tatsache, dass "viele Grabensegmente gleichzeitig offen standen" ist mit einer noch sehr viel kürzeren Zeitdauer der Ritualpraxis in Herxheim zu rechnen. Möglicherweise fand die Durchführung des Rituals sogar in einem bestimmten Zeitrhythmus statt (alle 2 Jahre oder 5 Jahre etc.?). Diese Ritualpraxis könnte aber auch nur 6 Monate gedauert haben. Wie die Analyse der Getöteten zeigt, ist im Vergleich zu natürlichen Sterbegemeinschaften ein ungewöhnlich hoher Anteil von 16 – 19 Jährigen unter den Toten festzustellen.
Wenn man davon ausgeht, dass die bislang nachgewiesenen "kriegerischen Handlungen" der Träger der Bandkeramischen Kultur (z. B. Talheim) untereinander später waren als die Rituale in Herxheim, könnten die Rituale zwischen 5050 – 5030 v. Chr. stattgefunden haben.
Keramik:
Wie Tonanalysen zeigen, stammt die sehr qualitätsvolle, in den Gräben gefundene, wohl rituell zerkleinerte verzierte Keramik (frische Bruchkanten) – möglicherweise für den Ritus extra hergestellt – großteils aus
verschiedenen, möglicherweise bis zu 400 km Luftlinie entfernten Gebieten. Sie sind Produkte verschiedener bandkerami-scher Regionalstilgruppen (bis auf Bayern und Pariser Becken (je 1 Scherbe) durchschnittlich 20 – 50 Stücke je Regionalgruppe).
So ist verzierte Keramik u. a. der Regionalstile Rhein-Mosel, Rhein-Main, Nordhessen, Neckar, Elster-Saale , Sárka (Böhmen) , Ober-Elsass und Bayern nachgewiesen. Diese Keramik ist wohl von dort und damit sind sicherlich auch Menschen aus diesen Gebieten nach Herxheim gekommen. Folglich ist auch mit einer über-regionale Kommunikation der Träger der Bandkeramik untereinander zu rechnen (Clanverbindungen).
In Herxheim fand ein Ritual statt:
Die extreme Zerstörung der Skelette und immer auf die gleiche Weise durchgeführte Zerstörung der getöteten Menschen (getötet, zerlegt, entfleischt), die immer auf die gleiche Weise hergestellten Schädelkalotten, die auf die gleiche Art und Weise vorgenommene Zerstörung der Artefakte und die Deponierung oder Entsorgung der Reste des Rituals in den Gräben lässt laut Dr. Andrea Zeeb-Lanz auf "stark normierte wiederkehrende Handlungen", also auf ein Ritual schließen. Letzteres, die Deponierung, könnte auch Bestandteil der Zeremonie gewesen sein, zu welcher wohl auch das Ausheben und das Füllen der Gräben mit Erde und den Fundüberresten gehört haben könnte. Dieses Grabenanlegen und Grabenanfüllen könnte jeweils der Anfang und das Ende einer Ritualsequenz bezeichnet haben. Danach handelt es sich bei den in den Gräben gefundenen Menschenresten wohl um Überbleibsel von geopferten Menschen.
Zur Identität der getöteten Menschen:
Wichtig für die Frage der Klärung der Identität der in Herxheim getöteten Menschen sind die an ca. 100 in Herxheim gefundenen Individuen vorgenommenen Strontium-Isotopenanalysen.
Der Anteil des Strontiums in den Böden hängt von der Art des Bodens einer Gegend ab (Granit, Gneis, Kalk, Löss, etc.). Durch Nahrung und Wasser wird dieser spezifische Strontiumanteil des Gebietes von den dort lebenden Lebewesen aufgenommen und in den Zähnen und Knochen eingelagert. Der spezifische Strontium-Isotopenanteil des Lebewesens kann sich im Lauf des Lebens aber ändern, da er normalerweise immer wieder in den Knochen abgebaut und ersetzt wird.
Das Lebewesen kann so bei dauerhaftem Wechsel in Gegenden mit anderen quantitativen Anteilen von Strontium im Boden den für diese Gegend spezifischen Strontium-Isotopenanteil aufnehmen. Bei den Backenzähnen und Zähnen ist das aber anders, da durch den Zahnschmelz der Strontium-Isotopenwert irgendwann versiegelt und so den bis zur Versiegelung in den Zahn aufgenommenen Strontium-Isotopenwert bewahrt. Wichtig beim Menschen sind die Backenzähne, besonders der Backenzahn M1, welcher nach den ersten 2 Lebensjahren durch Zahnschmelz versiegelt wird und dadurch das bis dahin in den Backenzahn eingelagerte Strontium versiegelt.
Der Backenzahn M1 hat damit für immer die Strontium-Isotopenwerte der Gegend der frühen Kindheit, andere Backenzähne die Strontium-Isotopenwerte der Gegend der frühen Jugend des jeweiligen Backenzahnbesitzers. So kann man durch unterschiedliche Strontium-Isotopenwerte in Backenzähnen und Strontium-Istopenwerten des Fundortes des menschlichen Individuums Migrationen nachweisen.
Durch die Strontium-Isotopenanalysen bevorzugt des ersten Backenzahns M1 des Menschen bei verschiedenen Individuen aus Herxheim, stellte man fest, dass die meisten der 100 untersuchten Individuen (90 %) aus Mittelgebirgen (Gneis/Granit) stammen und zumindest in ihrer Jugend dort gelebt haben.
Die anderen der untersuchten Individuen weisen die Herxheimer Strontium-Isotopensignatur oder die Strontium-Isotopensignatur von Kalk- und Mergel-böden auf. Die Individuen aus den Mittelgebirgen könnten aus dem Taunus, dem Harz, den Vogesen, dem Schwarzwald oder dem südlichen Odenwald stammen.
Nach den DNA-Analysen handelt es sich bei Letzteren um keine "Restmesolithiker" sondern um "bandkeramische Gene", was der älteren bislang vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung widerspricht. Man glaubte nämlich, dass die Träger der Linearbandkeramik nur in sogenannten "Lössbodengebieten" oder anderen sehr fruchtbaren Ackerbaugebieten gesiedelt hätten.
Bislang gibt es nicht genügend archäologische Belege für eine Besiedlung der Mittelgebirge. Es wäre möglich, dass sich vor Ankunft der Träger der Bandkeramischen Kultur in Mitteleuropa (Deutschland) kleine Gruppen - möglicherweise während irgendeines Zeitpunktes der Migration (Südeuropa?), der ursprünglich aus dem Nahen Osten stammenden Ackerbauern - abgespalten und aufgrund der Schwierigkeit eines Ackerbaus in Mittelgebirgen als Jäger und Sammler gelebt haben. Auch wäre es denkbar, dass nomadische bandkeramische Gruppen möglicherweise bei der Migration nach Mitteleuropa gleich in die Mittelgebirgen gezogen sind, während die anderen in die Ebene gezogen sind (Ackerbauern).
Gab es Kannibalismus in Herxheim?:
Ob es in Herxheim Kannibalismus gab - die getöteten Menschen wären dann möglicherweise nicht Teil eines Opferrituals - ist nach jetzigem Forschungsstand nicht 100% zu klären.
Schnittspuren auf den gefundenen Menschenknochen und die Herstellung von Schädelkalotten könnten zumindest auf rituellen Kannibalismus schließen lassen. Eindeutig ist, dass Fleisch von den Knochen geschnitten wurde.
Nach Dr. Andrea Zeeb-Lanz haben wir es in Herxheim am ehesten mit dem von den Anasazi, den Vorgängern der Pueblo-Indianer (14. Jh. n. Chr.) in Nordamerika bekannte Phänomen des "Extreme Processing" ("extreme Zerlegung") von Menschen aus rituellen und gesellschaftlichen Gründen zu tun. Extreme processing wird gesellschaftlich als Machtdemonstration gedeutet, soll den Gemeinschaftszusammenhalt gestärkt haben und im Rahmen von Festen rituell aufgeladen worden sein.
Gegen einen in Herxheim praktizierten Kannibalismus könnte u. a. die extreme Zerlegung der Knochen (spricht gegen Markentnahme), die große Zahl der gefundenen Toten, die Lage und Art der Brandspuren auf den Knochen und das Fehlen von Brandspuren an den Kalotten, welche darauf hätten schließen lassen, dass in "Kalotten Hirn gekocht wurde", sprechen. Auf jeden Fall sind Festmähler immer wichtiger Bestandteil von Ritualen und Zeremonien.
Idee, wie das Ritual in Herxheim abgelaufen sein könnte:
Zu einem "großen Ritual" (Fest) kamen von fern Menschen verschiedener bandkeramischer Gruppen mit von daheim mitgebrachter, für das Ritual vorgesehener verzierter Prunkkeramik.
Menschenopfer, Festmahl, Zerlegung der Geopferten, rituell zerstörte Mahlsteine, mit denen vorher das Getreide für das Ritualfest gemahlen wurde und Zerstörung der rituell aufgeladenen Artefakte waren Bestandteile des Rituals, wobei einer der Höhepunkte des Rituals wohl die Tötung oder die Zerlegung und das Entfleischen der getöteten Menschen war.
Am Ende deponierte bzw. entsorgte man die Ritualreste in Gräben und Siedlungsgruben, welche man dann wohl schnell zuschüttete.
Damit hatte man die "Dinge, welche man für das Ritual brauchte", dem Profanen entzogen.
Der hinter den "sonderbaren in Herxheim einst vorgenommenen Handlungen" stehende geistige-religiöse Hintergrund ist unbekannt. Man kann nur spekulieren.
Wir danken Frau Dr. Andrea Zeeb-Lanz (Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz) für ihren fesselnden Vortrag, Herrn Prof. Dr. Joseph Maran (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie (Heidelberg)) für die Bereitstellung eines digitalen Raumes, für die Vorstellung von Frau Dr. Andrea Zeeb-Lanz, die Leitung der Diskussion und der Veranstaltung insgesamt, Herrn Dr. Christoph Gerber (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie (Heidelberg)) für die Vorstellung des Vereins ArchaeNova e. V., Stefan Halbedl für die Durchführung des Livestreams und allen die einen Beitrag für das Gelingen der Veranstaltung geleistet haben.
Text: Karl-Heinz Halbedl. Fotos: Archiv Zeeb-Lanz, Prof. Dr. Reinhard Polke, Oliver Memmel, Karl-Heinz Halbedl. Seitenbearbeiter: Karl-Heinz Halbedl