Online-Vortrag vom 27. Januar 2022 von Prof. Dr. Enno Giele (Institut für Sinologie Universität Heidelberg):

"Frühste Städte in China"

 

Am 27.01.2022 18.15 Uhr fand unser erster Online-Vortrag im Jahr 2022 in Kooperation mit dem Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie der Universität Heidelberg statt. Herr Prof. Dr. Enno Giele (Institut für Sinologie der Universität Heidelberg) hielt einen Vortrag über "Frühste Städte in China". Der Doktorand der Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatischen Archäologie der Universität Heidelberg Herr  Stefan Müller stellte den Verein ArchaeNova e. V. vor. Herr Prof. Dr. Diamantis Panagiotopoulos (Institut für Klassische Archäologie und Byzantinische Archäologie der Universität Heidelberg) führte den Referenten ein und leitete die Diskussion. Herr Dr. Karl-Heinz Halbedl stellte den digitalen Raum zur Verfügung und begrüßte die Gäste. Herr Martin Kühner und Herr Stefan Halbedl sorgten für den Livestream.

Zuerst begründete Prof. Dr. Enno Giele die Wahl des Titel seines Vortrages, ging dann auf die Geographie Chinas, besonders des sogenannten Kernchinas (Zentral-Nordchina (wichtig nordchinesische Tiefebene) und Zentralsüd-China) ein und skizzierte die zeitliche Abfolge des Neolithikums und der Bronzezeit Chinas. Besonders wichtig ist hierbei die späte Jungsteinzeit (ca. 3000 – 2000 v. Chr.) im Nordwesten Chinas - ab 2200 v. Chr. schon in die Bronzezeit übergehend - als die Zeit der frühesten Urbanisierung (Longshan-Komplex (ca. 3200 – 1850 v. Chr.). Im Blickpunkt des Vortrages stand allerdings nicht der Longshan-Komplex, sondern der südlich davon, im Jangtse-Delta gelegene, der Liangzhu-Kultur (ca. 3400 – 2000 v. Chr.) ihren Namen gebende Fundort Liangzhu (ca. 160 km südwestlich von Schanghai), der nördlich des Longshan-Komplexes (ca. 3200 – 1850 v. Chr.) gelegene Fundort Shimao (Landkreis Shenmu, Shaanxi (ca. 2000 v. Chr.) und frühbronzezeitliche Fundorte (Erligang, Anyang).

 

Phänomen Stadt und Urbanismus/Forschungsgeschichte:

Dann setzte sich der Referent mit der in der Wissenschaft und zu unterschiedlichen Zeiten verschieden beantworteten Frage, was eine Stadt ist, genauer was für Merkmale eine Stadt aufweist bzw. ihr zugewiesen werden und der damit verbundenen Problematik bei sogenannten frühen Städten auseinander (Uruk (problematische Verknüpfung Stadt und Hochkultur). Er berücksichtigte dabei verschiedene mit dem Wort Stadt verbundene Begriffe und Bedeutungsinhalte auch in anderen Sprachen und ging auf die Thesen und Theorien von Vere Gordon Childe (1892 – 1957), von Elman Rogers Service (1915 – 1996) und von dem zeitgenössischen Archäologen Rowan Flad (Focus China) unter Anführung von Beispielen ein (Arnis (Schleswig Holstein/ca. 280 Einwohner (kleinste Stadt Deutschlands), Uruk (Mesopotamien)). Doch gab es vor 5000 Jahren schon Großstädte? Uruk in Mesopotamien war Ende des 4. Jt. v. Chr. ca. 250 ha und Anfang des 3. Jt. v. Chr. über 500 ha groß (je nach Schätzung ca. 30.000 bis 80.000 Einwohner).

1. Vere Gordon Childe:

Laut Vere Gordon Childe (1892 – 1957) gab es eine sogenannte "Urbane Revolution" (1936/1950), in der sich städtische Gesellschaften herausbildeten. Allerdings setzte Childe die "Urbane Revolution" in die Bronzezeit. Die Stadt als soziales Konzept und materielle Gegebenheit verändert auf vielen Gebieten das Leben der Menschen. Laut Childe weisen die frühen Städte folgende Merkmale auf: Sie sind im Hinblick auf ihre Größe dichter und umfangreicher besiedelt als frühere Siedlungen, im Gegensatz zum Dorf gibt es Berufshandwerker, Priester, Beamte, Transportarbeiter, jeder Primärproduzent musste aus seinem Überschuss Abgaben oder Steuern an eine Gottheit oder einen Herrscher/König zahlen, was zur Konzentration dieser Überschüsse führte ("Herrschaftsinstrument"). Weitere Merkmale für eine Stadt sind laut Childe der Bau von Monumentalgebäuden ("sym-bolischer Ort & Blickfang"), das die Siedlung ein Elitensitz bzw. der herrschenden Klasse war, Schriftlichkeit ("Katalysa-tor oder Ergebnis bestimmter kultureller Errungenschaften"), die Entwicklung von Wissenschaften (Arithmetik, Geometrie, Astronomie), dass die Stadt ein Zentrum oder der "Aus-gangspunkt künstlerischer Kreativität und ein Fernhan-delsknotenpunkt" ist. Die Staatsorganisation soll eher auf einer Residenz, also einer Stadt, als auf Verwandtschafts-verhältnissen beruhen (Stadt Bestandteil eines Staates). Als Einwohner einer stadtähnlichen Siedlung war man Bestand-teil der politischen Einheit dieser Stadt oder Bestandteil der politischen Einheit, zu der die Stadt gehörte. Verwandtschaft spielt eine geringere Rolle.

2. Elman Rogers Service und Rowan K. Flad:

Der Ethnologe Elman Rogers Service (1915 – 1996) veröffentlichte 1965 ein Modell der soziopolitischen Ent-wicklung von Gesellschaften in vier Stufen mit je eigener politischer Organisationsform (Hordengesellschaft, Stammesgesellschaft, Häuptlingstum, Staat). Der Urba-nismus wird in diesem Modell als ein Merkmal des Staates gesehen.

 

In neuerer Zeit beschäftigte sich der Archäologe Rowan K. Flad mit dem Phänomen Urbanismus auf der Basis der chinesischen Fundsituation. Die Stadt wird als ein großer Ort und als ein Zentrum ("Nabel der Welt"/"Hauptort der Gesellschaft"/ "Handelsknotenpunkt") gesehen, bei dem Siedlungsgröße, Größe der Bevölkerung, Bevölkerungsdichte, Bevölkerungs-wachstum (Bevölkerungsänderung), Monumentalbauten, Stadtplanung (typisch für China), Spezialisierung (Hand-werker etc.), Performanz (Gewalt eingeschlossen) etc. eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz zu Childe berücksichtigt Flad den Faktor Metall nicht, weil es in China schon vor Beginn der Bronzezeit Städte und Staaten bzw. stadtähnliche und staatliche Gebilde gab. Dabei stellt sich aber das Problem, inwieweit man diese aufgestellten Kriterien archäologisch fassen kann, da etliche Kriterien in den archäologischen Befunden nicht erkennbar sind. Auch kommt es auf die geographischen Gegebenheiten an, inwieweit Städte nachweisbar sind. So sind die noch zumindest in den 70/80iger Jahren des 20. Jahrhunderts n. Chr. existierenden größeren Schilfhaussiedlungen im Marschland wohl in ein paar tausend Jahren archäologisch schwierig - wenn überhaupt – nachzuweisen, während wir beispielsweise Lehmziegelbauten besser, Steinbauten am besten nachweisen können.

 


In China, vor allem in Nordchina ist fast alles aus Löss gebaut (gebrannte und getrocknete Lehmziegel/Stampflehm). Aufgrund der Tatsache, dass der Lehm (Ziegel/Stampflehm) die gleiche Farbe, wie der Boden aufweist, oft mit Pflanzen überdeckt ist und der Erosion ausgesetzt war, sind historische Bauten und Stampflehmterassen - auf denen oft Holzbauten standen - meist schwer nachzuweisen. Stampflehmmauern sind u. a. in Chengziya (Siedlung Mitte 3. Jt. v. Chr./Provinz Shandong) nachgewiesen.

Dann ging Herr Prof. Dr. Enno Giele auf die in China geltende und von den chinesischen Archäologen genutzte Terminologie bezüglich des Phänomens "Stadt" ein (wichtig u. a. Begriff Cheng = Umwallung/Stadt, welcher im Gegensatz zum deutschen Wort Stadt nur die umwallte Stadt/Siedlung meint). So lautet der Titel des 2017 zweibändigen Standardwerkes des chine-sischen Archäologen Xu Hong in wörtlicher deutscher Übersetzung "Archäologie umwallter Siedlungen (Städte) im vorkaiser-zeitlichen China". Die Umwallung einer großen Siedlung als Kennzeichen einer Stadt ist jedoch teilweise problematisch, da eine Umwallung nicht immer eine dichte Bebauung eingrenzt und es innerhalb der Umwallung Freiflächen gegeben haben könnte

China Fundorte:

Anyang, Erligang und Erlitou:

Der frühste gesicherte Staat in China mit Bronzefunden und ersten chinesischen Schriftnachweisen bestand unter der soge-nannten Shang-Dynastie. Eine ihrer be-kanntesten Hauptstädte war die in der Zeit 1300 bis 1050 v. Chr. bestehende und ca. 3600 ha große Siedlung Yinxu (Teil des heutigen Anyang). Dort wurden auch Kö-nigsgräbern und Menschenopfern ("Grab-begleiter"/insgesamt ca. 13.000) nachge-wiesen. In Anyang konnte allerdings für die Spätphase der Stadt keine Umwallung belegt werden.

 

Die über 1000 ha große Siedlung Erligang bei Zhengzhou war eine der größten, allerdings noch keine chinesischen Schriftzeugnisse, sondern nur Symbole aufweisende Siedlungen der frühen Shang-Dynastie. Die Siedlung bestand ca. zwischen 1500 und 1300 v. Chr. und ist heute teilweise vom modernen Zhengzhou überbaut. Sie weist u. a. Stampflehmterrassen und eine teilweise nachgewiesene Umwallung auf.

 

 

 

Noch älter als Erligang ist die östlich der heutigen Stadt Luoyang in der Provinz Henan gelegene, aufgrund von Scherben-funden auf ca. 300 ha geschätzte große Siedlung Erlitou (1700 – 1500 v. Chr.). Vielleicht war Erlitou eine Stadt der der Shang-Dynastie vorausgehenden Xia-Dynastie. Bei letzterer – bisher größten bekannten Siedlung des frühen 2. Jt. v. Chr. - konnte allerdings bislang noch keine Stadtmauer nachgewiesen werden. Hier wurden bisher die frühsten Bronzegefäße Chinas (119/u. a. Gießgefäße), Gegenstände aus Jade und Türkis neben Krokodilledertrommeln gefunden.

Liangzhu und Lingjiatan:

In die davor liegende späte Steinzeit Chinas, die Longshan-Zeit (ca. 3000 – 1900 v. Chr.) gehört teilweise die ca. 300 ha große, bei Schanghai liegende Siedlung Liangzhu (3300/2800 – 2300 v. Chr.). Hier konnten vor Überflutung schützende, aber auch zur Gewinnung eines Wasserreservoirs für den Reisanbau dienende Dämme aus Schilfbündeln, Wälle und eine Terrassenumfriedung nachgewiesen werden. In einer Grube fand man 26 Ton-nen verbrannten Reis, Erntemesser, Sicheln und eine Grabgabel. Viele dort gehobene Gräber enthielten Jadefunde (u. a. Lochscheiben, Kantröhren (90 % aller gemachten Funde waren aus Jade)).

 

Ähnliche Formen (Objekte) wie in Liangzhu fanden sich in dem weiter landeinwärts, in Zentralostchina gelege-nen Lingjiatan (3600 – 3300 v. Chr.), wo bislang mit die ältesten Lackwaren Chinas nachgewiesen werden konnten.

 

Shimao:

Die heute im Landkreis Shenmu in der Provinz Shaanxi in Nordwestchina am südlichen Rand der Ordos-Wüste gelegene, neolithische Siedlung Shimao (2300 – 1800 v. Chr.) besaß eine eine ca. 400 ha große Fläche umschließen-de Steinmauer, also nicht, wie in China üblich eine Stampf-lehmmauer. Im Fundament des monumentalen Osttores fanden sich die Köpfe von wohl rituell zum Schutz der Stadt geopferten jungen Frauen. In der relativ hoch erhaltenen, mit Monster- und Schlangenreliefverzierten Mauer waren auch Holzstämme als besondere Mauerstützen verbaut. Es fanden sich auch Reste von Mauerbemalungen. An Funden traten des Weiteren in Shimao Spinnviertel, Knochen-pfrieme, zehntausende von Knochennadeln, ein Keramik-vogel mit ausgebreiteten Schwingen (Adler), aber auch wenige Bronzemesser, sogenannte Jadezepter (Funktion unbekannt), Jadebeile, Seide, Leinen, Krokodilhautreste (importiert?) und die bislang frühste nachgewiesene Mund-orgel zu Tage. Besonders die Verbreitung der Jadezepter bzw. der Idee der Jadezepter (im Südchina zum Teil andere Formen) vom Norden (u. a. Shimao) aus bis nach Südchina spricht für Kontakte und für die Ausbildung einer gemein-samen Formensprache im späten Neolithikum in China, "was aufgrund der Größe und der Diversifizierung auch der Funde für eine beginnende Urbanisierung im späten Neolithikum spricht." Es gab also – wie auch Rowan K. Flad vertritt - schon vor Einführung von Bronze und Schrift in China schon Städte und frühstaatliche Gebilde.

 

Wir danken Herrn Prof. Dr. Enno Giele (Institut für Sinologie der Universität Heidelberg) für den anregenden Vortrag, Herrn Prof. Dr. Diamantis Panagiotopoulos (Institut für Klassische Archäologie und Byzantinische Archäologie der Universität Heidelberg) für die Einführung des Referenten und die Diskussionsleitung, dem Doktoranten der Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatischen Archäologie Herrn Stefan Müller für die Vorstellung des Vereins ArchaeNova e. V., Herrn Martin Kühner und Herrn Stefan Halbedl für den Livestream, Herrn Dr. Christoph Gerber und dem Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatischen Archäologie für ihre Unterstützung, Herrn Dr. Karl-Heinz Halbedl für die Begrüßung und die Erstellung des digitalen Raumes und allen anderen, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben.

 

Text: Karl-Heinz Halbedl. Fotos: Karl-Heinz Halbedl, Grundkarte: Wikimedia Commons

Seitenbearbeiter: Karl-Heinz Halbedl